Über der Gluck-Rezeption im deutschsprachigen Raum liegt ein Hauch von Tragik. Schon von Anbeginn der Gluck-Forschung im 19. Jhd. an bis zum heutigen Tag haben sich, z. T. durch unglückliche Umstände, z. T. durch Sorglosigkeit der jeweiligen Autoren, zahlreiche Fehler eingeschlichen, die sowohl die Lebens- als auch die Werkgeschichte Glucks betreffen und diese mitunter erheblich entstellen. Leider haben auch neueste Biographien und sonstige Abhandlungen zu Gluck bis jetzt keine grundlegende Abhilfe geschaffen. Exemplarisch für die zahlreichen Irrtümer und Fehlurteile nennen wir die Oper Telemaco von Gluck, welche Karl Geiringer, der Ersteditor der Partitur, als sogenannte Coltellini-Fassung ausschließlich in das Jahr 1765 datierte, ohne das gute Dutzend triftiger Indizien und Argumente zu berücksichtigen, welche eine Entstehung der Urform dieser Oper für das Jahr 1749 und damit die Auffassung älterer Biographen wie Anton Schmid bestätigen 1 Die u. E. zwingende Rückdatierung einzelner Teile der Oper Telemaco zeitigt nicht nur erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis von Glucks Biographie und Werkgeschichte als solchen, sondern lässt auch interessante Rückschlüsse auf die Politisierung des damaligen Opernbetriebes zu. 2
So enthält z. B. die Ouvertüre von Telemaco beschwingte Motive eines Hochzeitsmarsches und Hochzeitstanzes, die weitaus mehr zu Glucks anstehender Vermählung mit der jungen Maria Anna Bergin im Jahr 1750 passen und wohl auch dafür komponiert wurden, als zu der formalen, bekanntermaßen unter einem unglücklichen Stern stehenden Vermählung des österreichischen Thronfolgers Joseph II. im Jahr 1765. Für diese hätte Gluck – analog zum düsteren Ballett Semiramis desselben Jahres – ganz andere Töne gewählt.
Für die Rezeption Glucks in seiner Oberpfälzer Heimat hat sich eine Hobbyarbeit des Pfarrers Franz Xaver Buchner, entstanden zu Glucks 200. Geburtstag im Jahr 1914, als geradezu verheerend erwiesen. 3
In dieser Arbeit, die a priori wegen ihres prätentiösen To- nes und ihrer oberflächlichen Machart in keiner Weise heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, verstieg sich der Autor zur Aussage, Glucks Geburt sei nur infolge einer frommen Fälschung in das Forsthaus des Dorfes Weidenwang verlegt worden. Da das in Weidenwang gezeigte Geburtshaus zur Zeit der Geburt Glucks noch gar nicht existiert habe, komme dem Nachbardorf Erasbach die Ehre des Geburtsortes zu. Unzählige Autoren und fast alle musikalischen Standardwerke haben sich seitdem ungeprüft dieser Ansicht angeschlossen – und so vergingen geschlagene 100 Jahre, ehe wir zum 300. Geburtstag Glucks selbst in die Archive gingen, Buchners Quellen revidierten und prompt zu einer gegenteiligen Erkenntnis kamen. Nach Sichtung von fast 1000 Seiten Quellenmaterial 4 zeigte sich nämlich, dass der besagte Autor im Jahr 1914 nicht nur etliche Dokumente zur Klärung des Geburtsortes (z. B. eine Kaminreparatur im Weidenwanger Forsthaus des Jahres 1714) übersehen, sondern auch die von ihm benutzten Quellen in grob irreführender Weise präsentiert und interpretiert hatte. 5
Im Jahr 2019 erhielten wir die Gelegenheit, das zur Unkenntlichkeit entstellte und kurz vor dem Abriss stehende alte Forsthaus von Weidenwang, in den Gluck geboren wurde, käuflich zu erwerben und damit der Nachwelt zu erhalten. In den beiden Folgejahren führten wir es einer denkmalgerechten Restaurierung zu, was uns eine Neubewertung und mehrzeitige Neudatierung (u. a. mit naturwissenschaftlichen Methoden wie der Dendrochronologie) ermöglichte. Konkret fanden wir in dem Forsthaus der Jahre 1723/24 erhebliche Reste des Vorgängerbaus von spätestens 1671 und noch früherer Bauten. 6
In diesem Vorgängerbau hatte Glucks Vater Alexander Gluck im Jahr 1711 als frisch gebackener Holzförster des Klosters Seligenporten Logis bezogen, so dass nach seiner Eheschließung im Jahr 1713 Christoph Willibald Gluck in der Tat am 2. Juli 1714 in diesem Haus zur Welt kam – und in keinem anderen. Die Dorfbewohner von Weidenwang wussten dies allerdings bis in die jüngste Generation hinein schon immer, zumal kein Geringerer als Christoph Willibald Gluck selbst bei einem Heimatbesuch im Jahr 1764 die dortige Tradition begründet hatte!
Erheblicher Unbill traf auch Glucks Opern der Jahre 1741 bis 1746. Da der entscheidende Meinungsmacher des 19. Jhds. im deutschsprachigen Raum, der Musikwissenschaftler Adolph Marx (1795-1866), diesem Frühwerk jegliche Bedeutung für das spätere Reformwerk Glucks abgesprochen und ihm damit schon früh den Garaus bereitet hatte, verschwanden die formal der Opera Seria neapolitanischer Prägung verpflichteten und ehedem nur fragmentarisch erhaltenen frühen Opern Glucks für weitere 150 Jahre mehr oder weniger in der Versenkung – und dies, obwohl die erhaltenen Arien bereits erhebliche individuelle Züge des Komponisten aufweisen und von hoher tonkünstlerischer Qualität sind. Erst eine kritische Teiledition durch die Musikwissenschaftlerin Tanja Gölz 7 verschaffte hier 2017 erste Abhilfe. Aber noch immer ist dieses Frühwerk, welches seinerzeit mit dem besten Sängermaterial, überwiegend aus der Reihe der Kastraten, 8 inszeniert wurde und dem „Newcomer“ Gluck einen kometenhaften Aufstieg als Opernkomponist aus dem Nichts heraus ermöglichte, nicht komplett editiert 9 und es ist bis dato auch so gut wie nicht auf der Bühne inszeniert worden.
Dieser missliche Umstand brachte uns als Inhaber des wahren Geburtshauses Glucks in Weidenwang und als Liebhaber Gluckscher Musik auf die Idee, den allerfrühesten Gluck – nämlich den neugeborenen Weidenwanger des Jahres 1714 – mit dem allerfrühesten Komponisten Gluck – nämlich dem Mailänder Komponisten der Jahre 1741 bis 1745 – in eine musikalische Verbindung zu bringen und damit die Geburtsstätte und den Komponisten zugleich auf unkonventionelle Art und Weise zu ehren und in Erinnerung zu rufen.
In diesem Zusammenhang kommen der österreichische Sopranist Arno Arnos Raunig und der deutsche Dirigent und Pianist Paul Weigold im Mai 2023 nach Weidenwang, um in der originalen Geburtsstätte des Komponisten einige der frühen Arien Glucks gemeinsam zu erarbeiten. Das Resultat ihrer Bemühungen stellen die Künstler am Samstag, den 20. Mai 2023, in einem Abendkonzert in der Taufkirche Glucks in Weidenwang einem interessierten Publikum vor. Da drei dieser Arien (aus den Opern Artaserse, Poro und Artamene) seit ihrer Vorstellung gegen Mitte des 18. Jahrhunderts nie mehr vor einem öffentlichen Publikum aufgeführt wurden, 10 handelt es sich hierbei um echte Weltpremieren! Ergänzt wird dieser Vortrag durch einige späte Kastratenarien Glucks, was einen interessanten Entwicklungsvergleich ermöglicht, und Arien des von Gluck hochverehrten Altmeisters der Barockmusik, Georg Friedrich Händel, mit dem Gluck 1746 gemeinsam ein Benefizkonzert gestaltet hatte.
Herr Raunig und Herr Weigold haben eine langjährige Karriere hinter sich, bei der sie bereits mit den berühmtesten Gesangskünstlern und Dirigenten Europas an diversen Häusern zusammengearbeitet haben. Arno Raunig hat als ehemaliger Solist der Wiener Sängerknaben seine bestens geschulte, silberhelle und leicht vibrierende Sopranstimme des Knabenzeit wie durch ein Wunder auch nach dem Stimmbruch bis zum heutigen Tag erhalten; er gehört damit zur jener erlesenen Gruppe „echter“ Sopranisten, die man auch bei weltweiter Suche an den Fingern einer Hand abzählen kann.
Da niemand so prädestiniert ist wie Arno Raunig, die besagten Kastraten-Arien Glucks vorzutragen, und er obendrein durch einen versierten Pianisten wie Paul Weigold perfekt unterstützt wird, handelt es sich bei dem Weidenwanger Konzert um ein Ereignis der Extra-, ja der Weltklasse. Unser Dank gilt schon heute beiden Künstlern, die mit ihrem selbstlosen Einsatz mithelfen, die neue Kunde vom alten und wahren Geburtshaus Glucks in Weidenwang in die Musikwelt hinauszutragen!
Alle Liebhaber der Barockmusik und speziell der Gluckschen Musik aus Nah und Fern sind eingeladen, zu diesem außerordentlichen Event nach Weidenwang (im Zentrum Bayerns) zu kommen, dem Konzert beizuwohnen und bei dieser Gelegenheit auch das wahre Geburtshaus Glucks kennenzulernen!
Nähere Informationen unter http://gluckhaus.robl.de und https://arnoargos.com
Sieglinde Pfabigan
«der neue Merker» 03/2023 1 Nachzulesen im Textbuch 3 unserer 4-teiligen Vortragsreihe vom Herbst 2022: Schicksalsjahre Glucks von 1746 bis 1752, online unter: http://www.robl.de/gluck/schicksalsjahre.html.
1 Nachzulesen im Textbuch 3 unserer 4-teiligen Vortragsreihe vom Herbst 2022: Schicksalsjahre Glucks von 1746 bis
1752, online unter: http://www.robl.de/gluck/schicksalsjahre.html.
2 Geschildert in Werner Robl: 3 Komponisten im Blickfeld widerstreitender Großmächte: Jommelli, Terradellas und Gluck, Berching-Weidenwang 2023, online unter: http://www.robl.de/gluck/jommelli/jommelli.pdf.
3 Vgl. F. X. Buchner: Das Neueste über Christof Willibald Ritter von Gluck, Kallmünz 1915.
4 Entstanden anlässlich eines Gerichtsverfahrens gegen das Dorf Weidenwang über mehrere Instanzen, in den Jahren 1719 bis 1725.
5 Ausführliche Gegenüberstellung von Argumenten und Gegenargumenten unter http://gluckhaus.robl.de, Rubriken „Irrweg“ und „Tradition“.
6 Ausführlich hierzu unsere Monographie: Werner Robl: Das Forsthaus zu Weidenwang, auch Gluckhaus genannt – Rettung vor dem Untergang, Berching 2021, http://www.robl.de/gluck/gluckhaus3.pdf.
7 Gluck, Christoph Willibald: Fragmentarisch überlieferte Opere serie: Artaserse (Mailand 1741), Il Tigrane (Crema 1743), La Sofonisba (Mailand 1744), L’Ippolito (Mailand 1745), herausgegeben von Tanja Gölz innerhalb der sog. Gesamtausgabe Gluck, Band III/1, Bärenreiter Verlag Kassel, ISMN 97900006495510.
8 In chronologischer Reihenfolge die Kastratensänger Giuseppe Appiani, Giuseppe Jozzi, Felice Salimbeni, Giuseppe Gallieni, Giovanni Carestini, Lorenzo Gherardi, Mariano Nicolini, Angelo Maria Monticelli, sowie die Sopranistin Caterina Aschieri.
9 Nach Mitteilung der Herausgeberin T. Gölz ist mit der Veröffentlichung von Teilband 2 der unter Endnote 6 genannten Reihe für dem Herbst 2023 zu rechnen.
10 Für die Arie „Rasserena il mesto ciglio“ liegt eine Studioaufnahme des BBC vom 17. April 2014 vor, ausgeführt vom Countertenor Tim Morgan und vom Cembalisten Steven Devine. Die Arie „Mi scacci sdegnato“ wurde am 3. Juni 2014 von der Sopranistin und Musikwissenschaftlerin Yuliya Shein im Landtag Rheinland-Pfalz vorgetragen. Dies war wohl eine nicht-öffentliche Vorführung, zur Einwerbung weiterer Mittel für die Gluckforschung.
Berching, den 28. Februar 2023 gez. Dr. Werner Robl